Samstag, 5. Juni 2010

Bestrafung von übergewichtigen Kindern und ihren Eltern?

Jeder zweite Deutsche soll übergewichtig sein. Nun will man sich anscheinend auf die Schüler stürzen. Herr Kraus vom Lehrerverband, zu dem 160.000 Lehrer gehören, soll gefordert haben: "Wenn Kinder trotz Hilfsangeboten dauerhaft übergewichtig sind, dann muss man den Eltern das Kindergeld oder Hartz-IV kürzen". Er soll vorgeschlagen haben: "Sie sollten Grundschüler jedes Jahr auf die Waage stellen und ihr Gewicht kontrollieren." Genau! Am besten öffentlich am Pranger auf einer Viehwaage. Nun gibt es das Ideal- und das Normalgewicht. Den Body-Mass-Index dürfen wir nicht vergessen. Wonach sollen sich die Kontrolettis richten?

Dazu ein paar gesammelte Reaktionen aus einem Forum mit kleinen Korrekturen und Weglassungen von mir:
Es wäre schön, wenn Lehrer sich parallel genauso engagiert dafür einsetzen würden, dass es ALG II-Sätze gibt, die eine gesunde Ernährung für Heranwachsende überhaupt ermöglichen und dass in den Schulen das Sponsoring aufhört und keine Cola-und Süßigkeitenautomaten mehr aufgestellt werden. Dass in den Schulcafeterien Pommes und Schoko-Croissants nicht mehr billiger sind als gesundes Essen bzw.am besten überhaupt nicht mehr in der Schule verkauft werden dürfen. Und dass die Lehrer auch nicht mehr so tolle "pädagogische" Maßnahmen ergreifen wie "Wer fünfmal seine Hausaufgaben vergessen hat, muss für die ganze Klasse Kuchen oder Knabberzeug mitbringen". Und dass nicht zuallererst meistens der Sportunterricht ausfällt, wenn die Lehrer wieder mal mehr Zeit brauchen, um ein ach so oberwichtiges Projekt für den Tag der offenen Tür vorzubereiten.

Allen Ernstes, wollen akademisch vorbelastete (!!!) Menschen Dicke maßregeln? Und solche Nullen wollen unsere Kinder ausbilden? Sie sollten lieber dafür Sorge tragen, dass sie ihren Stoff so präsentieren, dass die Kinder Interesse am Fach und am Lernen bekommen. Vielleicht sollten Sportlehrer Interesse an Bewegung vermitteln? Interesse. Nicht Befehl und Gehorsam. Vielleicht kann der Bio-Pauker Interesse wecken, die Natur draußen zu erforschen und nicht am Daddelautomaten zu sitzen. Vielleicht kann der Geschichtsonkel das Interesse wecken sich historische Stätten anzuschauen. Sie gibt es in Good Old Germany an jeder Ecke. Vielleicht sollten einige Lehrer mehr Begeisterung für ihr eigenes Fach entwickeln. Denn wenn sie selbst begeistert sind von dem, was sie tun, dann können sie Begeisterung oder zumindest ein bisschen Neugier und Interesse wecken.

Ich hätte von unserer akademischen Elite erwartet, dass sie sich logische Konsequenzen an den fünf Fingern abzählen können. Aber nach so einer Forderung frage ich mich, ob die überhaupt bis drei zählen können. Wenn heute dicke Kinder und Jugendliche gemaßregelt werden sollen, dann könnten es morgen dicke Rentner sein. Nun gibt es aber eine Unmenge Leute (vielleicht auch den ein oder anderen übergewichtigen Lehrkörper kurz vor der Pensionierung), die im Alter an Umfang zulegen (sozusagen vielleicht Jahresringe, wer weiss). Außerdem, wenn die Möglichkeit geschaffen werden sollte, heute Dicke zu kontrollieren, dann könnten es morgen Rothaarige oder Blonde sein. Übermorgen könnten es Volksgruppen oder Religionsgemeinschaften sein.

Nächstens handelt es sich - und das sollten gerade Pädagogen mit universitärem Hintergrundwissen beurteilen können - bei vielen Dicken um ein Symptom. Ein Symptom zu kurieren ist manchmal hilfreich. Manchmal aber auch nur Sch### im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn ich nämlich Hustenreiz mit Rhizinusöl behandele, dann traut sich der Patient nicht mehr zu husten. Problem gelöst, Herr Oberstudiendirektor?

Und überhaupt nur Lehrer nach Gewichtskontrolle zu verbeamten ist genauso irrwitzig, wie Taxifahrer nur noch mit Schuhgrösse 44 zuzulassen. Bademeister müssen blond sein und Krankenschwestern müssen grüne Augen haben? Wer Gelbsucht hat, wird nicht behandelt, sondern als Briefträger bei der Deutschen Post eingestellt.

"Gesundheitliche Vernachlässigung bis hin zur Verwahrlosung ist ein Vergehen.Wenn sich Eltern nicht um gesunde Ernährung und genügend Bewegung ihrer Kinder kümmern, ist das im Extremfall der Einstieg in Kindesmisshandlung. Wenn Mitteilungen an Eltern übergewichtiger Kinder in den Wind geschlagen werden, muss das Jugendamt informiert und in letzter Instanz Kindergeld oder Hartz IV gekürzt werden“, soll Herr Kraus gesagt haben. Vernachlässigung, Verwahrlosung, Vergehen, Kindesmisshandlung. Es werden große (straf-)rechtliche Begriffe in den Raum gestellt.

Welchen Ablauf stellen Lehrer sich denn vor?! Ein Lehrer findet einen Schüler also "gefährlich" zu dick. Der Lehrer informiert die Eltern oder gleich direkt den Schularzt. Untersuchungen von Minderjährigen ohne Einverständnis der Eltern dürfte mWn nachwievor nicht möglich sein. Eltern lehnen die Untersuchung ab. Und dann? Jugendamt einschalten? Das Jugendamt spricht mit den Eltern. Die Eltern finden das Kind nicht zu dick und lehnen Untersuchungen ab. Und dann?

Alles, was das Jugendamt danach evtl. lostreten könnte, würde in die gesetzlichen Eltern-und Grundrechte eingreifen und müsste "geeignet (zur Verfolgung des intendierten Zwecks), erforderlich (d. h. nicht mit milderem Mittel gleichermaßen effektiv) und verhältnismäßig im engeren Sinn (d. h. zumutbar)" sein.

Das wäre wohl schon die erste Hürde. Überspitzt gesagt: solange das Kind noch nicht sooo verfettet ist, dass es nicht ohne Hebekran die Schultreppe hoch kommt oder ständig mit Herzkasper zusammenbricht, solange dürfte es für das Jugendamt wohl mehr als schwierig werden, irgend etwas "anzuordnen" in Richtung ärztl. Untersuchung usw. So oder so, aber eh nicht ohne ein gerichtliches Verfahren, sprich Anwälte, Gutachten (= schon mal eine Kostenfrage für das Amt). Ein Kind wegen Fettgefährdung aus seiner Familie herauszunehmen wäre noch viel schwieriger.

Diese "Forderung" von Lehrern zeigt auf gewisse Weise sehr anschaulich, wie sich bei uns die Denkweise entwickelt (hat). "Bist du nicht willig, so brauche ich Gewalt bzw. so nehme ich dir dein Geld zum Leben weg. Wir hätten auch kein Problem damit, dein Existenzminimum zu unterschreiten." Ob sie wohl diese Forderung so in den Raum geworfen hätten, wenn man nicht "Hartz IV" , sondern "Existenzminimum" einsetzen würde?

Weil wir es als Konsumgesellschaft, als Gesundheitswesen, als Pädagogen, als Schulen nicht geschafft haben, das Land schlank zu halten, versuchen wir es jetzt über das Geld, oder wie?
Also ran an alle unter 18 ? Aber wahrscheinlich haben sie ja noch nicht einmal so weit gedacht, was Hartz IV "Existenzminimum" bedeutet.

Ich habe manchmal den Eindruck, "Hartz IV" hat sich als Begriff schon völlig verselbständigt. Das ist mittlerweile anscheinend schon ein Synonym geworden für eine arbeitsscheue, suchtabhängige, ungebildete Proleten-Unterschicht, deren Kinder in jeder Hinsicht Opfer der eigenen, erziehungsunfähigen Eltern sind.

Danke an Lara und Underdog

Schwalben-Kommentar:
Hartz-Empfänger, ihre Kinder, "gewisse" Eltern sind längst die Sündenböcke und das Freiwild der Gesellschaft geworden. Das lenkt wunderbar von den eigenen Mankos ab. Wenn die Lehrer, die dem Lehrerverband angehören, anderer Ansicht sind, sollten sie hurtig einen Widerruf veröffentlichen. Ich stamme aus einer schlanken Familie. Meine Kinder sind normalgewichtig. Ironie an. Ich muss jetzt überlegen, ob ich meine Schwägerin anzeige. Ironie aus. Ihr Sohn ist klapperdünn, obwohl er reichlich ißt. Das war bei mir auch so. Bis zur ersten Schwangerschaft konnte ich essen, was ich wollte. Ich nahm nicht zu. Seit den Kindern habe ich den Hungerharkenstatus verloren und ein bisschen auf den Rippen. Wahrscheinlich sind demnächst die Eltern von sog. schlechten Kostverwertern im Visier und es wird behauptet, dass sie sie verhungern lassen.

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