Liebe LeserInnen,
ich stelle den Bericht eines Mitmenschen ein, der den 2. WK erlebt hat als kleiner Bub. Möchtet ihr das erleben oder euren Kindern zumuten?
Von Sperling:
Es war bitterkalt. Und es war Nacht. Ich saß auf meinem Schlitten und meine Mama zog mich durch den Schnee. Ein paar Sachen hatten wir noch dabei, die ich immer wieder krampfhaft fest hielt, damit sie nicht runter fielen. Angst hatte ich nicht, obwohl es dunkel war, denn wir waren ja nicht allein. Mit uns zusammen hatten sich Hunderte, ja, vielleicht Tausende, auf den Weg gemacht in Richtung Westen, wie ich später, als ich groß war, erfuhr.
An die Stunden davor kann ich mich nur noch vage erinnern. Ich war damals 5 Jahre alt. Längst war ich eingeschlafen, als meine Eltern mich mitten in der Januar-Nacht 1945 weckten. Wenn man so klein ist und so jung an Jahren, vertraut man den Eltern natürlich vollkommen und stellt nicht viele Fragen nach dem „Warum“. Eine gewisse Unruhe bei meiner Mutter war mir schon am Tag davor aufgefallen. Aber nun standen meine Eltern mit mir auf dem Arm der Mutter am Fenster unserer Wohnung und starrten an den Himmel, an den Horizont. Immer wieder flackerte dort grelles Licht auf, mal heller, mal weniger hell, aber es war deutlich zu sehen. Damit verbunden hörte man ein Grollen, so etwa wie bei einem Gewitter.
Sehr viel später erfuhr ich, dass die Ost-Front „gerade noch 50 km vor unserer Stadt“ war. So erklärte es mir meine Mutter. Ich spürte die Unruhe bei meinen Eltern, bemerkte, wie sich auf der Strasse mehr und mehr Menschen bewegten, Leute, die man sonst nie alle zusammen auf den Strassen sah. Mama zog mich rasch an, und wir verabschiedeten uns von meinem Vater.
Und jetzt saß ich auf meinem Schlitten und wurde von Mutter durch die Nacht gezogen. Zunächst ging es zu einem Sammelplatz. Keine Ahnung, warum. Ich hörte besorgte Stimmen, Rufen, und dann war da noch ein Mann in einer schicken Uniform. Ich glaube, das war der „Gauleiter“ des Bezirks. Meine Mama war immer eine Frau, die sich nichts vormachen ließ. Ich weiß nur noch, dass sie gegenüber diesem Mann recht laut geworden war. Später erklärte sie mir die Zusammenhänge. Sie hatte ihm Vorwürfe gemacht, dass man die Bevölkerung über die wahren Kriegsumstände im Unklaren gelassen hatte. Höhnisch hatte sie ihn noch gefragt, „ob wir hier jetzt stehen, um den Endsieg zu feiern“.
Der “Sammelplatz“ war in der Nähe des Bahnhofs, aber wir erfuhren, dass es keinen Zug gab, der in Richtung Westen fahren würde. Offenbar aber gab es Hinweise, wo man einen Zug erreichen würde, denn nach dieser unruhig verlaufenen Versammlung mit dem Herrn Gauleiter machte sich die Bevölkerung auf den Weg. Manche hatten auch Blockwagen, größere „Bollerwagen“, dabei. Viele Familien hatten mehrere Kinder, 4 oder 5, das war nicht unbedingt eine Seltenheit.
Anfangs wurde noch gesprochen. Man unterhielt sich untereinander, tauschte sich aus, aber im Laufe des Vormittags, es war inzwischen hell geworden, verstummten die Gespräche. Jedenfalls habe ich es so in Erinnerung. Nur meine Mama sprach mich immer wieder an, sonst wäre ich wohl auf dem Schlitten eingeschlafen. Erst viel später sagte sie mir, warum sie das getan hatte. Wäre ich bei der herrschenden Kälte von 25 bis 30° minus eingeschlafen, dann hätte ich möglicherweise die Flucht gar nicht überlebt.
An die folgenden Wochen bis zu unserer Ankunft in Berlin habe ich dann nur noch bruchstückhafte Erinnerungen. Es passierte ja nicht so viel auf der Flucht gen Westen, aber was in Erinnerung blieb, das waren bestimmte Ereignisse, die die Eintönigkeit einer Wanderung durch Eis und Schnee immer wieder unterbrachen.
Aber ich will nicht vorgreifen. Stunden nachdem wir die Stadt verlassen hatten, erreichten wir einen anderen Ort. Dort wurden wir zunächst ein wenig versorgt. Die dortigen Behörden hatten sich bereits ein wenig vorbereitet auf den Flüchtlingsstrom. Es gab etwas zu trinken und zu essen, ärztliche Versorgung, und dann ging es mit der Eisenbahn weiter. Nicht jeder allerdings hatte die Möglichkeit, mitfahren zu können. Der Zug wurde proppevoll. Diejenigen, die zurück blieben, das waren meistens Erwachsene ohne Begleitung von Kindern, sollen in Schulturnhallen untergebracht worden sein, wie mir meine Mutter später sagte.
Ich weiß nicht mehr, wie lange wir gefahren sind. Jedenfalls mussten wir nach einiger Zeit wieder aussteigen. Der Zug fuhr nicht weiter. Nun hieß es, wieder zu Fuß weiter zu marschieren. Unterwegs wurde der Flüchtlingsstrom immer größer, wie mir schien. Natürlich waren viele Leute aus allen möglichen Orten unterwegs nach Westen, und die großen Landstraßen sahen bald Tausende von Flüchtlingen, die sich mit ihren kleinen Handwagen, Schlitten, oft aber auch voll beladenen Pferdefuhrwerken auf den Weg gemacht hatten.
Nachmittags, im Winter wird es ja schon früh dunkel, erreichte man immer irgendeinen Ort, und es keimte jedes Mal die Hoffnung auf, dass man einen Zug erwischen würde. Manchmal hatte man tatsächlich Glück, und dann musste man nicht den Tag auf der Landstrasse verbringen. Aber ob es eine gemütliche Fahrt war? Der „Zug“ war ja selten eine regelmäßige Bahnverbindung, sondern die Flüchtlinge waren schon froh, wenn sie in Güterwagen Platz fanden. Und das war nicht ungefährlich. Es war ja immer noch bitterkalt, und meine Mama hat mir immer wieder das Gesicht, Hände, Füße gerieben, damit der kleine Körper nicht erfror. Ich weiß noch, wie eine Frau plötzlich morgens aufschrie und fast verrückt geworden ist. Sie hatte in der Nacht alle vier Kinder verloren. Sie waren buchstäblich erfroren, weil sie eingeschlafen waren.
So etwas kam tatsächlich sehr oft vor.
Ich entsinne mich auch, dass meine Mutter und ich eine ganze Tagesfahrt im sogenannten „Bremserhäuschen“ eines Güterwagens verbrachten. Da war besonders kalt. Es fehlte die Wärme, die Menschen in einem geschlossenen Raum doch irgendwie abgeben. Und dann waren die Güterwagen auch überwiegend mit Stroh ausgelegt gewesen. Es handelte sich ja teilweise sogar um Vieh-Transporter.
„Bremserhäuschen“, das sind so kleine Aufbauten vorn oder hinten an einem Güterwagen, denn Güterwagen wurden ja manchmal lediglich verschoben und rollten selbständig von einem Gleis aufs nächste. Im Bremserhäuschen saß dann jemand und brachte die Wagen dann an der vorgesehen Stelle zum Stehen. Bei uns war das nicht nötig. Wir wurden ja von der Lok gezogen.
Nach einiger Zeit ging es dann wieder mal nicht weiter. Der Zug wurde vielleicht zurück nach Osten dirigiert, vielleicht waren aber auch nur die Gleise zerstört worden, denn je weiter wir nach Westen kamen, desto häufiger traf man auch auf Hinweise von Bombenangriffen. Diese Kriegszerstörungen waren uns im Osten in den ersten Kriegsjahren erspart geblieben. Der Bombenkrieg fand im Westen statt.
Nachts wurden wir von den Hilfskräften, das waren Einrichtungen wie das „Rote Kreuz“, aber auch Militär-Dienststellen usw., so gut es ging, in Turnhallen, Kirchen, öffentlichen Gebäuden usw. untergebracht. Man tat was man konnte, um den Flüchtlingen das Nötigste zu geben. Essen, Trinken, Decken für die Nacht.
Am nächsten Morgen galt es, Informationen zu beschaffen, ob und wann eine Bahnverbindung Richtung Berlin bestehen würde. Ich musste immer mit, wenn Mutter irgendwo hin ging, um das herauszufinden. Sie hat mich keine Sekunde aus den Augen gelassen. Das spürte ich besonders dann, wenn ich mich unterwegs mit anderen Kindern angefreundet hatte. Wir haben uns da manchmal „verspielt“, und plötzlich wurde mir bewusst, dass ich unter all den fremden Menschen in dem Ort ganz allein war. Ich begann, ängstlich nach meiner Mama zu rufen. Aber sie war immer da. Das klappte wohl auch deshalb ganz gut, weil die Mütter gegenseitig auf sich und die Kinder Acht gaben, so gut es eben ging. Denn Bekanntschaften dauerten selten länger als einen Tag, weil ja die Ziele der Flüchtlinge stets andere waren. Einige wollten nach Berlin, andere nach Dresden oder sonst wo hin.
Zu den Strapazen der Flucht kamen jetzt aber immer häufiger Ereignisse, die direkt mit dem Krieg in Verbindung zu bringen sind, also mit Kampfhandlungen. So verging nun kein Tag mehr, an dem wir nicht – oft mehrmals täglich – von feindlichen Tieffliegern angegriffen wurden. Das geschah meistens so, dass mehrere Kampflugzeuge in sehr geringer Höhe – ich konnte in der Tat manchmal die Gesichter der Piloten und der Bordschützen erkennen – entweder von vorn oder von hinten kommend auf den Flüchtlingstreck von inzwischen ein paar tausend Menschen herab stießen und diesen dann aus Maschinengewehren beschossen. Dann galt es, möglich schnell im Chausseegraben oder unter Bäumen, soweit überhaupt vorhanden, Deckung zu suchen.
Nach wenigen Minuten war der Spuk meistens vorbei, aber wenn man zum Treck auf die Strasse zurück kehrte, bot sich einem ein unbeschreiblicher Anblick. Viele konnten nicht mehr rechtzeitig in Deckung gehen, und diejenigen, die mit Pferd und Wagen unterwegs waren, hatten nur die Chance, unter den Gespannen Schutz zu finden. Das gelang selten, denn die Pferde gingen aufgrund der entstandenen Unruhe im Treck und wegen der Schüsse usw. durch. So sah man dann manchmal Hunderte von Menschen erschossen oder verletzt auf der Strasse, neben ihren zerstörten Habseligkeiten, Fuhrwerken, toten Pferden. Es war jedes Mal eine Verwüstung.
Eine Begebenheit ist mir aber noch in deutlicher Erinnerung. Unserem Treck hatte sich eines Tages auch eine Gruppe von Soldaten angeschlossen, die ebenfalls auf der Flucht nach Westen war. Unter diesen befand sich ein kleiner Trupp Russen, die zu der sogenannten Wlassov-Armee gehörten. Diese Wlassow-Armee war insgesamt eine Armee von ca. 2 Millionen Soldaten, die auf deutscher Seite gegen das kommunistische Regime in der Sowjetunion kämpften. Diesem Trupp verdanke ich vielleicht mein Leben. Sie gehörten zu einer berittenen Einheit. Einige von uns Kindern hatten das Glück, dass wir mit auf ihren Pferden sitzen durften. Da hatten es die Erwachsenen, meistens ja nur die Mütter, nicht so schwer, die Kinder auf den Schlitten ziehen zu müssen.
Plötzlich schnappten diese Reiter unvermittelt die Mütter von uns Kindern, zogen sie auf die Pferde und galoppierten mit uns in ein nahes Waldgebiet, wo wir absprangen. Kaum dort angekommen, hörten wir auch schon die Flugzeuge, die im Tiefflug über den Flüchtlingstreck brausten, und natürlich das Gewehrfeuer. Nach wenigen Minuten war alles vorbei, und wir kehrten mit einem beklommenen Gefühl alle zum Treck zurück.
Diesmal war der Angriff besonders schlimm gewesen, denn offenbar hatte man auch Bomben auf die Flüchtlinge abgeworfen. Es bot sich ein grauenvoller Anblick. Tote, Verletzte, getötete Pferde, zerborstene Wagen, lose Gepäckstücke überall auf der Straße.
So ging es Tag für Tag. Irgendwann, nach ungefähr 3 Wochen, erreichten wir die Stadt Berlin und trafen bei unseren Verwandten in Oranjenburg ein. Dort war es jedoch keineswegs sicher. Im Gegenteil. Die Bombenangriffe auf Berlin erfolgten nun fast jede Nacht, so dass wir dann auch jede Nacht im Luftschutzkeller des Hauses zubrachten. Eines Nachts, nach einem erneuten Bombenangriff, wurde auch unser Häuschen getroffen. Nicht schlimm, aber immerhin. Schlechter erging es den Nachbarn. Das Haus war vollkommen zerstört worden. Die Ruine brannte noch als wir unseren Keller verließen, und die meisten der Nachbars-Familie waren bei dem Angriff ums Leben gekommen.
Berlin wurde immer heftiger bedrängt von den fremden Truppen, so dass wir uns wiederum auf die Flucht begeben mussten, diesmal nach Hamburg, wo auch Verwandte von uns lebten.
In Hamburg war es natürlich nicht besser in den letzten Kriegswochen. Jeden Tag, jede Nacht fielen Bomben auf die Stadt. Es konnte passieren, dass man aus irgendeinem Grunde unterwegs war, vielleicht um etwas zu besorgen. Plötzlich gab es Bombenalarm, und man musste schnellstens einen der verfügbaren Luftschutzbunker aufsuchen. Wer es nicht rechtzeitig schaffte, bevor die Bunkertüren hermetisch verriegelt wurden, musste sehen wo er blieb. Manch einer hat den Angriff dann nicht überlebt.
Im Bunker selbst spürte man manchmal sehr deutlich die Einschläge und Treffer. Der Bunker wackelte wie ein Baum im Wind oder, besser gesagt, wie Häuser bei einem Erdbeben. Viele schlotterten vor Angst. Wenn ein Angriff nach vielleicht einer Stunde vorbei war, konnte man aber noch lange nicht wieder ins Freie. Die Stadt brannte, und die Hitze war so stark, dass man schon nach wenigen Augenblicken draußen umgekommen wäre. Da hieß es dann, nochmals ein paar Stunden warten, bis „Entwarnung“ gegeben werden konnte.
Draußen bot sich dann das nach solchen Bomben-Angriffen fast übliche Bild. Wieder zerstörte Häuser, Straßen, Autos, tote Menschen überall. Und aufgeregte Familienmitglieder, die nach verschollenen Verwandten suchten. Und die Hitze, die durch die brennenden Häuser verursacht wurde. Staub, Trümmer.
Irgendwann wurde es Frühling. Es war ein schöner, warmer und sonniger Frühling. Und wenn das Frühjahr so schön ist, dann muss einfach etwas Tolles passieren. Und das tat es auch. Der Krieg war im Mai 1945 zu Ende, und es begann eine neue Zeit.
Irgendwann traf auch mein Bruder in Hamburg ein. Er war in Warschau gewesen, um dort eine Ausbildung zu erhalten. Die Flucht hat er hat als 15jähriger Bub ähnlich erlebt wie meine Mutter und ich. Und er hat, allein auf sich gestellt, mit ein paar Freunden die Strapazen überwunden und ist heil bei uns angekommen. Mein Vater ist allerdings im Krieg geblieben. Wir haben zuletzt noch aus Böhmen von ihm gehört. Danach kam kein Lebenszeichen mehr von meinem Vater.
Ich hoffe, dass unsere Lebensretter auf der Flucht, die uns immer wieder mit dem Allernötigsten versorgt hatten, den Krieg heil überstanden haben. Und ich hoffe, dass auch die jungen Russen der Wlassov-Armee, die uns im Wald in Sicherheit gebracht hatten, den Krieg überlebten. Sie hatten es nach dem Ende des Krieges besonders schwer, und ihre Chance, mit dem Leben davon gekommen zu sein, ist nicht besonders groß gewesen. Die insgesamt 2 Millionen Mann starke Wlassow-Armee wurde von der amerikanischen Armee gefangen genommen und den russischen Truppen übergeben. Man hat sie fast alle hingerichtet, wie ich später erfuhr.
Früher, als ich noch jünger war, habe ich mir über Einzelheiten des Krieges nicht so viele Gedanken gemacht. Später aber reifte in mir das Interesse an den Umständen, wie es zu diesem Krieg kommen konnte. Heute weiß ich, dass Kriege niemals einfach so „ausbrechen“, wie es häufig geschildert wird. Kriege der Neuzeit werden geplant und durchgeführt. Daran sollte man immer denken, wenn wieder einmal in den Medien über kriegerische Handlungen berichtet wird. Solchen Berichten sollte man immer mit Vorbehalt begegnen.
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