Stellen Sie sich vor Sie gehen zu einer Feier und alle anwesenden Personen wollen Sie küssen und umarmen. Manche kennen Sie gut, manche flüchtig, manche gar nicht. Würde Ihnen das gefallen?
Diese Situation erleben Kinder, wenn man mit ihnen zu Familienfeiern geht. Die Verwandtschaft ist entzückt. Ach wie süß, wie goldig, was für ein feiner Schatz. Das Kind wird abgeküßt, umarmt, betascht und wie ein Wanderpokal weiter gereicht. Das Kind schreit, wehrt sich, wendet sich ab und ganze mutige Mäuschen sagen, wenn sie schon sprechen können: "Nein, ich will das nicht".
Die Erwachsenen lachen oder sagen: "Stell' dich nicht so an", "Was hat der Schatz denn? Hast du Hunger"? oder die Krönung: "Die Oma ist traurig, wenn sie dich nicht küssen/umarmen darf".
Ist den Erwachsenen bewusst, was es bedeutet? Die Gefühle eines Kindes werden nicht ernst genommen. Die Gegenwehr wird herunter gespielt. Es wird ausgelacht, es soll hinnehmen, was man mit ihm macht, es wird nach Ausflüchten gesucht. Mit dem letzten Satz macht die Oma das Kind für ihre Gefühle verantwortlich und redet ihm Schuldgefühle ein.
Die Eltern stehen hilflos dabei oder es ist ihnen nicht bewusst. Man möchte sich schließlich nicht bei der Verwandtschaft unbeliebt machen und/oder ihre Gefühle verletzen. Was ist mit der Gefühlsverletzung des Kindes? Ist das nichts?
Auf der Straße, beim Einkaufen, bei Veranstaltungen meinen wildfremde Menschen ein Kind anfassen und herzen zu dürfen. Sie meinen das alle sicher nicht böse. Was bedeutet es für ein Kind, wenn seine Eltern/Erwachsene nicht hinter ihm stehen, es nicht verteidigen, sein "Nein", die Gegenwehr nicht unterstützen? Es lernt, dass seine Gegenwehr zwecklos ist, sein "Nein" nichts wert ist. Liebe Erwachsene, das werden die "besten" Missbrauchsopfer.
Wir hatten diese Situation im Verwandtschaftskreis. Ich stand jedesmal kurz vorm Platzen. Meine Gatte meinte, ich übertreibe, sie meinen es nur gut und ich solle die Bälle flach halten. Bei der nächsten Feier hat mein Ältester sich geweigert die Hand zu geben. "Seit wann bist du denn so ungezogen?" Beim Handgeben hatte ich schon vorher eine Bresche für ihn schlagen müssen, weil er Linkshänder ist und nicht das "feine" Händchen gab.
Ich habe ihn zur Seite genommen und gefragt, was los sei. Er: "Wenn ich die Hand gebe, fallen sie über mich her. Das will ich nicht. Die schwitzen und riechen so komisch". Erwachsene können Gerüche haben, die für Kinder befremdlich sind: Knoblauch, Zwiebeln, Tabak, Alkohol, Schweiß, Parfum, After Shave. Der kindliche Geruchssinn ist feiner und unverdorbener als unserer.
Ich habe mich mit Erzieherinnen unterhalten, die mir Buchempfehlungen gaben, mir rieten zur Tat zu schreiten, hinter den Kindern zu stehen und die Erwachsenen zu sensibilisieren. Mein Gatte stöhnte und stellte die Frage, ob ich mich tatsächlich mit der Verwandtschaft anlegen will? Ich: "Ja, ja und nochmals ja". Das kommt davon, wenn man eine ungehorsames Weib heiratet :-o).
Ich habe zwei Bücher gekauft: "Schön und Blöd" und "Küssen nicht erlaubt". In den Büchern wird kindgerecht anhand von Situationen erklärt, was Kinder bzgl. Nähe und Zärtlichkeiten als angenehm und unangenehm empfinden. Ich musste meinen Kindern bei jeder Gelegenheit vorlesen. Sie fanden sich darin wieder. Die Notbremse musste gezogen werden.
Die nächste Familienfeier stand an. Ich habe meinen Ältesten, nach Absprache mit ihm, als erstes in die "Höhle der Löwen" treten lassen. Ein mutiges Kerlchen. Vor seine Brust hielt er das Buch: Küssen nicht erlaubt. Stille, absolute Stille. Es war bei den Erwachsenen eine Mischung aus Entsetzen und Schock. Eine Diskussion entbrannte. Das war ja auch die Absicht. Die jüngere Verwandtschaft stand hinter mir und warf ihren Oldies vor, dass sie nichts dagegen unternommen haben. Sie hätten es über sich ergehen lassen müssen und ihr "Nein" sei verhallt. War das schön. Sie nannten Beispiele. Aus ihnen sprudelte eine Menge heraus. Ich brauchte gar nichts mehr zu sagen. Wir haben noch oft darüber diskutiert, bis es bei allen saß. Der Umgang mit dem Nachwuchs ist respektvoller geworden. Geht doch!
An den Kinderwagen und später an den Buggy mit Kiddyboard daran habe ich ein Schild geheftet "Anfassen verboten". Mein Gatte: "Durch deine Aktionen sind wir im Gespräch". Gut. Heute weiß er, dass ich richtig gehandelt habe. Manche Dinge muss man erst lernen.
Bringen Sie Ihren Kindern bei, dass ihr Körper ihnen gehört. Niemand hat darüber zu bestimmen. Wenn es um Nähe und Zärtlichkeiten geht, sind sie der Boss. Sie entscheiden, wer sich ihnen nähern darf. Wenn sie Vertrauen haben, tun sie das von alleine. Sagen Sie ihnen, dass Sie sie lieb haben, auch wenn ihnen Unrecht geschieht oder sie etwas angestellt haben. Dann zieht das beliebte Druckmittel nicht: "Wenn deine Mama/dein Papa es erfährt, hat sie/er dich nicht mehr lieb".
Ein starkes Kind ist ein Kind, das "Nein" sagt und die Unterstützung seines Umfeldes erfährt. Ich danke meinem Sohn, dass er schon im Kleinkindalter den Mut hatte. Er hat mir ehrlich geantwortet. Er brauchte Hilfe. Heute ist er der Verteidiger der Kinder von Erwerbslosen. Wenn einer anfängt, ziehen die anderen mit.
Passen Sie bitte auf ihre Kinder auf. Na, wen habe ich alles erwischt?
5 Kommentare:
Danke schön für den Post. Ich stimme Ihnen vollkommen zu und freue mich, dass Sie sich so für ihre Kinder einsetzen. Die Fähigkeit Nein zu sagen in jeder Situation ist sehr wichtig für Kinder. Und die Tatsache, dass Sie ihnen in so einer Lage den Rücken stärken, werden Sie ihnen bestimmt nicht vergessen. Man sollte sich nie aus Konflikscheue oder Angst vor Konsequenzen bei solchen Themen konform verhalten. Den meisten Männern entgehen solche "Kleinigkeiten", vielleicht weil unser Gehirn anders gepolt ist (kleiner Buchtip an dieser Stelle: John Medina - Brain Rules). Trotzdem hätte meiner Meinung nach ihr Mann sie direkt unterstützen sollen :).
Die Kommentare der Verwandschaft sind eine Mischungs aus Egoismus und Arroganz. Nicht die Absicht zählt, sondern die Umsetzung und wie es ankommt.
Alles Gute weiterhin.
Ja, obwohl ich inzwischen 60 Jahre alt bin, kann ich mich noch gut erinnern, dass mir die Konfirmationen der Verwandtschaft ein Greuel waren. Sie waren die Treffen, auf denen alles was kleiner war, abgeknutscht wurde.
Ich habe mich auch gewehrt, und das mit den Gerüchen stimmt. Allerdings war es damals fast ein Verbrechen, wenn sich ein Kind gewehrt hat - trotzdem tat ich es.
Ein supgerguter Artikel, das stimmt alles.
Klasse Artikel!
Frohe Ostern an Euch.
Die Gefühle von Kindern darf man nicht verletzen, die Gefühle von Verwandten die sich freuen Enkel, Nichte, Neffe usw. zu sehen schon. Denen gegenüber darf man unhöflich und respektlos sein. Reicht ja wenn die Geschenke rüberreichen beim nächsten Fest. Am besten sagt man nicht mal Danke und läßt es sich auch nicht in die Hand geben, Oma könnte ja nach Rheumasalbe riechen.
Was ist das für eine Einstellung?
Meine Kinder haben nicht nur jene Leute höflich zu grüßen die parfümiert, geliftet und geschminkt sind, sondern auch die übrige Verwandtschaft. Dazu gehört auch sich in den Arm nehmen und auf die Stirn oder Wange küssen zu lassen.
Das bedeutet nicht, das irgendjemand das Recht hätte meine Kinder an Stellen zu berühren die eindeutig nichts mit höflicher Begrüßung zu tun haben und Fremde haben ausser einem Handschlag zur Begrüßung/zum Abschied keinerlei Berührungsrechte.
Das auflösen familiärer Strukturen hat seine Ursache auch in der Ansicht das niemand irgendjemandem etwas schuldig ist, niemand für irgendwen Verantwortung trägt und jeder machen klann was er will. Eben auch der Oma sagen das sie nicht traurig sein darf wenn sie das Enkelkind nicht umarmen darf weil sie "stinkt", faltig, dick, hässlich, alt oder was auch immer ist.
Großeltern, egal wie sie riechen, sind immer gut genug wenn dringend Babysitter oder Wohnungs-/Tier- oder sonstige -sitter gebraucht werden, Geschenke, Hilfe jeder Art, alles selbstverständlich, aber bitte Abstand zu Kindern und Enkeln. Das nenne ich Arroganz und Egoismus.
@ichnunwieder
Huii, da hat mich jemand gründlich misstanden. Die Frage ist, wie man sich freut. Da stand abküßen, betatschen, herfallen und genau das war gemeint. Erwachsene erwarten, dass Kinder Respekt haben. Das dürfen Kinder auch erwarten. Es ging nicht um normales Tag sagen oder Hand geben oder Undankbarkeit bei Geschenken.
Ist es respektvoll, wenn Erwachsene einem Linkshänder-Kind die Hand verweigern? Hand ist Hand. Wenn ein Kind sich aufeinmal weigert, sollte man in Erfahrung bringen warum. Und genau das habe ich getan.
Es ging um erzwungene Küsse auf den Mund, abgeknutschte Kindergesichter, betatschte Popos, Tante x, die den Kinderkopf an ihre feuchten Achsel drückt. Igitt,igitt!
Es gibt viele Geruchsempfindlichkeiten. Die wenigsten Nichtraucher möchten einen Raucher küssen, aber Kinder sollen das? Meine Mutter kann Knofigeruch nicht ausstehen, also verzichten wir aus Respekt auf den Genuss vor einem Besuch. Ich reagiere empfindlich, wenn mir morgens früh in Aufzügen oder den Öffentlichen die ganzen frisch aufgelegten Parfüms oder Deos unter die Nase kommen. Ich bin aus purem Selbstschutz so unhöflich und respektlos und halte mir dezent die Nase zu oder ein Taschentuch vor, weil das für mich beißend ist und mir es sonst geht wie einem Heuschnupfenpatienten. So hat jeder seine Empfindlichkeiten, die man auch Kindern zugestehen sollte. Von dem beschrieben Rest war gar keine Rede.
Wenn man jemand küßt und umarmt, muss man ihn doch mögen, Vertrauen haben, näher kennen.
Ich verrate ihnen wie es weiter ging. Die Erwachsenen haben sich zurückgenommen und die Kids nicht mehr überfallen und das waren wirklich Überfälle und kein zart gehauchtes Küßchen auf Wange oder Stirn. Mein Sohn gab wieder freiwillig die Hand. Nach einer Weile sind die Kids, nicht nur meine, bei der Begrüßung freiwillig auf ihre Verwandtschaftslieblinge zugelaufen und ihnen in die Arme gehüpft. Oma begann irgendwann freiwillig ihren heiß ersehnten Kuss auf den Mund. So muss das sein.
Ich habe selber noch nie von einem Kind erwartet, dass es mich von sich aus umarmt oder küßt. Das machen sie von alleine, wenn sie das möchten.
Diese heuchlerische Bussi-Bussi-Gesellschaft kann ich nicht unterstützen. Nähe zu anderen muss beidseitig freiwillig erfolgen. Zu den meisten Verwandten haben die Kinder doch keinen so engen Bezug.
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