Zum Thema Schuld wähle ich ein Beispiel, das sich täglich an vielen Schulen abspielt. Ein Gruppe Provokateure sucht sich ein Gängelopfer aus. Vielleicht passt der Gruppe an dem Kind die Nase nicht, es ist zu dick, zu dünn, trägt keine Markenkleidung, es ist ein schulischer Überflieger und dem Neid der anderen ausgesetzt, es ist ein schlechter Schüler, das Kind hat ein loses Mundwerk, hat selber mal jemanden geärgert oder provoziert, es hat sie "genervt" oder es ist schüchtern und neigt dazu, sich nicht zu wehren. Vielleicht hat es auch gar nichts getan. Man sucht sich beliebig ein Opfer. Das alles rechtfertigt nicht, dass eine Gruppe wochen- oder monatelang jemandem zusetzt.
Das Kind wird von seinen Mitschülern getrietzt. Es wird verhöhnt, verspottet, beschimpft, bedrängelt. Anfänglich wird es noch von anderen verteidigt, bis man den Verteidigern verdeutlicht, dass sie das nächste Opfer sein werden. Es werden Unwahrheiten verbreitet, so dass sich fast jeder von ihm abwendet. Nirgendwo darf das Kind mitspielen. Es wird ausgestoßen. Das Kind versucht sich verbal zu wehren. Es wird nicht erhört. Es versucht seine Peiniger zu ignorieren und läuft weg. Sie laufen mit lauten wüsten Beschimpfungen und Hänseleien hinter ihm her. Sie stoßen es in einen Kreis, schubsen es hin und her, bewerfen es mit Laub, Kastanien, Stöcken, Steinchen, Schneebällen. Das Opfer will zunächst nichts sagen, weil es fürchtet als Petze zu gelten und man ihm erst recht zusetzen wird.
Irgendwann wendet es sich an seine Eltern oder die Eltern bekommen einen Hinweis, von jemandem, der es gut meint. Sie suchen das Gespräch mit Lehrkräften, den Provokateuren, den Eltern der Provokateure. Sie verharmlosen die Situation. Die Provokateure reden sich mit banalen Ausreden heraus. Die Eltern haben die mein-Kind-tut-sowas-nicht-Einstellung. Sie erkennen das Problem nicht. Die Lehrkräfte wollen in Zukunft mehr darauf achten. Das alles sind halbherzige Reaktionen. Die Gängeleien gehen weiter. Die Provokateure haben die Erfahrung gemacht, dass sie keine Konzequenzen zu befürchten haben.
Das Opfer hat die Erfahrung gemacht, dass seine Not nicht ernst genommen wird. Das Kind kommt immer öfter verzweifelt nach Hause. Die schulischen Leistungen lassen nach. Das Kind wird fahrig, unkonzentriert und schläft schlecht. Der Gang zur Schule wird zum Albtraum. Erneut versuchen die Eltern des Kindes zu intervenieren und ihm zu helfen. Es geschieht, was nicht geschehen sollte: in seiner Verzweiflung nimmt das Kind einen Gegenstand, schlägt damit zu und verletzt einen Provokateur. Aus dem Opfer wird ein Täter. Der Aufschrei ist groß. Das Kind gilt wg. seiner unangemessenen Reaktion als aggressiv.
Wer hat die Schuld? Die Provokateure, die zu seicht reagierenden Erwachsenen, die wegsehenden Mitschüler, das Opfer? Wenn wir den Schuldbegriff nehmen wollen, haben alle schuld. Die wenigste Schuld mag ich dabei dem Opfer geben. Es hat aus Furcht zu lange gezögert, bis es sich Hilfe holte. Allerdings ist es für seine Überreaktion verantwortlich. Der Fehler der meisten Menschen ist, im Schuldbegriff zu denken.
Da ich eher nach dem Verursacherprinzip denke, würde ich in dem Fall den Kausalzusammenhang sehen. Das Opfer wurde so lange in die Enge getrieben, bis es sich nicht mehr anders zu helfen wusste. Das soll keine Entschuldigung oder Rechtfertigung sein, sondern eine Erklärung. Es ist deutscher Schulalltag. Weil sich solche Fälle an den Schulen häufen, wird das "No Blame Approach" in die Tat umgesetzt.
"Der No Blame Approach ist ein spezielles Verfahren zum Umgang mit Mobbing. Auch dieses Verfahren zielt nicht auf eine Bestrafung ab, da auch hier die Lösung des Konflikts im Mittelpunkt steht. Im Gegensatz zur Mediation wird hierbei aber nicht nach den Ursachen geforscht, sondern versucht, das System zu durchbrechen."
Nicht nur Ursachen und Bestrafung, auch der Schuldbegriff werden ausgeklammert. Es gibt mittlerweile Anti-Mobbingtrainer, die in die Schulen kommen und die Provokateure in die Situation des Opfers versetzen. Das könnte ebenfalls eine wirkungsvolle Methode sein.
Mobbingfälle findet man auch verstärkt im Arbeitsleben. Meist wird dort subtiler und versteckter vorgegangen. Warum mobben Menschen überhaupt? Aus Egoismus, aus Gedankenlosigkeit, weil sie zu einer Gruppe dazu gehören und nicht selber ausgegrenzt werden wollen, sind sie Opfer der Ellebogengesellschaft, wollen sie von ihren eigenen Problemen ablenken, wollen sie den Posten des anderen bekommen?
Geschrieben und basiernd auf Kindererzählungen und -erfahrungen. Abschlussfragen: warum helfen uns die angeblich omnipotenten Erwachsenen nicht? Warum versagen sie, wenn wir sie dringend brauchen? Sie kommen an mit Psychologen, Therapeuten, irgendwelchen Experten, die keine Ahnung haben von dem, was sich in uns abspielt. Die Fragen gebe ich an die Erwachsenen weiter.
1 Kommentar:
Dabei fällt mir meine Kurzgeschichte ein:
http://www.kurzgeschichten.de/vb/showthread.php?t=24916
Bitte nicht ohne Quellenhinweis weiterverbreiten :)
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