Donnerstag, 6. Mai 2010

Die verkannte Jugend Teil 3

Die "Hochbekloppten"

Das Wort "hochbekloppt" stammt von mir. Ich meine damit hochbegabt. Mein Sohn hat sich sehr früh für Sprache interessiert. Mit zwei Jahren sprach er komplette Sätze. Je komplizierter die Worte waren, desto mehr haben sie ihn interessiert. Babysprache hat er nie gesprochen. Es war faszinierend wie er schon als Baby auf alles zeigte und die Bezeichnungen wissen wollte. Eines Tages sprach er die Worte fehlerfrei aus. Für Bücher hatte er sehr früh eine Vorliebe.

Wir hatten einen Spieltisch von Fisher Price. Man konnte Kugeln rollen, Formen verschieben, daran rumrappeln, klappern. Mit zwei Jahren drehte er die Platte um. Auf der Rückseite waren alle Buchstaben und Zahlen. Er fragte, was das ist? Ich habe ihm die Buchstaben und Zahlen benannt und spaßeshalber das ABC-Lied gesungen. Das Lied konnte er nicht oft genug hören.

Kurze Zeit später stellte ich fest, dass er lesen kann. Ich wollte es erst nicht glauben. Ein Zweijähriger kann doch nicht lesen. Ein beliebtes Spiel war für ihn unterwegs die Autos zu benennen. Ein Toyota Corolla, ein Audi Quatro, ein Mercedes Benz usw. Seine Großeltern schenkten ihm eine Tafel mit Magnetbuchstaben und -zahlen. Opa hat sie an die Wand gedübelt. So Junge, jetzt hast du ein Betätigungsfeld. Er nahm die Buchstaben und setzte sie zu Worten zusammen. Er nahm die Zahlen und bildete Rechenaufgaben. Mir war das nicht geheuer. Er nahm die Kreide und schrieb.

In der Kita erwähnte die Erzieherin das erste Mal das "böse" Wort mit h: hochbegabt. Mit seinen Altersgenossen konnte er nicht viel anfangen. Er war ihnen weit voraus. Im Kindergarten war er nur mit den älteren Kindern zusammen. Er hatte eine Kindergärtnerin, die selber zwei hochbegabte Kinder hat. Sie riet mir ihn testen zu lassen.

Die Austestung hat eine Diplom-Pädagogin gemacht. Eigentlich sollte das nur eine Stunde dauern. Die Zeit war überschritten und ich fragte nach. Die Dipl.-Dame nahm mich zur Seite und sagte, sie wolle noch ein paar Tests mehr mit ihm machen. Das Kind sei außergewöhnlich begabt. Mein Sohn strahlte und meinte, die Tante würde tolle Spiele mit ihm machen. Resultat: Hochbegabung.

Wir haben ihn vorzeitig einschulen lassen. Er gierte nach der Schule. Die Grundschule war eine herbe Enttäuschung für ihn. Er konnte schon lange lesen, schreiben und rechnen. Seine Klassenkameraden nannten ihn Professor. Die Klassenlehrerin hat ihn mit Zusatzmaterial "gefüttert" und am Schul-PC extra für ihn Wissensspiele installiert. Das schürte den Neid der Kinder und ihrer Eltern. Warum darf er, was unsere Kinder nicht dürfen? Die Lehrerin cool bei einem Elternabend: "Weil er etwas kann, was ihre Kinder nicht können. Er schreibt eine Klassenarbeit in einer Viertelstunde. Ihre Kinder sind nach einer Stunde damit noch nicht fertig. Kümmern sie sich darum, dass ihre Kinder einen Satz fehlerfrei schaffen. Dann reden wir weiter". Boing!

Der Papa hatte die Idee das Kind auf eine Hochbegabtenschule zu schicken. Ein Internat. Unser Sohn wollte nicht weg von zu Hause. Er sagte mir, er wolle nicht anders sein als die Anderen. Ich musste ihm erklären, dass jeder Mensch anders ist. Abendelang habe ich mich mit Papa auseinandergesetzt bis er den Satz sagte: "Sich mit dir anzulegen ist so als ob ich mich mit einem Rudel Löwen anlege." Wie wahr, wie wahr. Mutter Löwe hat gewonnen. Unser Sohn freute sich und ich bekam ganz viele Küßchen.

Nach der Grundschule wechselte er aufs Gym. Das erste halbe Jahr hat ihm Spaß gemacht. Es war neu. Es war ein Herausforderung. Sein Mathelehrer, der ihn kleiner Einstein nennt, hat ihn mit unserem Einverständnis bei der Hochbegabtenförderung der Uni Duisburg/Essen angemeldet. Nach einem halben Jahr sagte mein Sohn: "Da gehe ich nicht mehr hin. Ich kann denen nichts mehr beibringen". Ich sagte: "Jetzt mal langsam, sie sollen dir was beibringen".

Er zeige mir Mathelösungswege, die ich wesentlich verständlicher fand als die Lösungswege, die wir kennen. "Weißt du Mama, das habe ich ihnen gezeigt und sie sagen, sie müssen an den alten Lösungswegen festhalten. Die Dozenten und Profs sind nicht offen für neue Ideen. Sie sind festgefahren."

Am Gym machte man ihm den Strebervorwurf. Ich sagte ihm, dass sei der Neid der Besitzlosen. Während sie nachmittags büffeln, hast du Freizeit. Seit längerem gibt er seinen MitschülerInnen Nachhilfe. Er sagt, es macht ihm Spaß. Der Förderverein der Schule sucht Nachhilfelehrer. Sie finden keine bzw. die Stadt hat kein Geld. Nun tritt man an ihn heran. Naturwissenschaften und Sprachen. Ob er mal Lehrer wird?

In den Medien werden die Hochbegabten als merkwürdige Sonderlinge dargestellt. Das sind Menschen wie du und ich. Sie lernen schneller. Für sie gibt es kaum Förderung im normalen Schulalltag.

Und für sie auch nicht:
"Hartz IV ist kein soziales Fürsorge-, sondern ein Arbeitsmarktgesetz. Das stellt das Bundessozialgericht in Kassel klar. Deshalb kommt ein Behinderten-Mehrbedarf für Kinder unter 15 Jahren nicht in Frage. Geklagt hatte ein sechsjähriger Junge aus Gelsenkirchen"

Irgendwo habe ich mal gelesen Hochbegabung sei die schönste Form der Behinderung. Die Behinderung ist nicht ihre Begabung. Die Behinderung ist die Gesellschaft. Was nicht der Norm entspricht ist merkwürdig und abzulehnen?! Seine Klassenkameraden sagen, er könne besser erklären als die Lehrkräfte. Wenn sie Schwierigkeiten haben, rufen sie ihn an oder kommen vorbei. Er erklärt und erklärt und erklärt. Diese Geduld möchte ich haben. Er sitzt hinten in der Klasse, hat die Schülerschar um sich und betet ihnen den Schulstoff vor. Er hat seinen Weg gefunden. Sein Bücherregal quillt über. Nein, das sind keine Schulbücher. Einmal pro Woche verschwindet er stundenlang in der Stadtbücherei und kommt bewaffnet mit etlichen Büchern zurück. Es ist ein ganz normaler Junge. Er ist halt klüger und aufnahmefähiger als andere. Diese Kinder verfügen über ein fotografisches Gedächtnis.

Für Desparada News ;-)


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